Sommaire
Die Freischärler der Literaturforschung, die in den jüngsten Jahrzehnten auszogen, um den Kontinent der Handschriften zu erforschen, brachten eine reiche Ausbeute an Entdeckungen, Landkarten und Erfahrungen in das neue Jahrhundert ein. Doch in der Heimat wurden sie an einem Kontrollstreifen abgewiesen: es war für nötig befunden „zwischen Text und Entwurf eine entschiedene Grenze zu ziehen“.2 Die Notwendigkeit einer Abgrenzung zwischen Text und Untext war aus deren Wesensverschiedenheit abgeleitet worden: „Der Prozeß des Schreibens (…) bewegt sich aber nicht sosehr vor und hin zum Text, sondern wesentlich außerhalb des Textes“. 3 Aus diesem Außerhalb – sozusagen einem Prozeß aus einer anderen Welt – erhebt sichder Text dann mit einem Flügelschlag : „ l’œuvre jaillit vierge et totale ” schreibt Octave Nadal „ Ses commencements ne sont pas dans les vicissitudes de sa genèse, mais dans l’unique instant où elle existe en tant qu’œuvre ”. 4 Diese Feststellung mag überraschen, wenn man sie in ihren Zusammenhang stellt: sie ist einer umfänglichen Handschriftenedition vorangestellt, welche die Interpretation eines Werkes erhellen soll, dem man gerade seine gänzliche Vergangenheitslosigkeit bescheinigt hat. Überdies handelt es sich um das Werk eines Dichters, Paul Valéry, dessen Poetik ganz einer „ poésie en acte ” verpflichtet ist. Dieser eigenartige Widerspruch zwischen dem Denken und Tun eines Editors läßt sich wohl nur aus einer apodiktischen Verabsolutierung des Textes verstehen, der gleichsam wie eine Monade, allein zu sich selbst in Beziehung steht. Diese Sichtweise hat bis in unsere Tage überlebt. Reuß knüpft hier offenbar an, wenn er behauptet „ daß der Begriff Textgenese [...] wahrscheinlich bedeutend besser dort aufgehoben wäre, wo sich innerhalb eines abgeschlossenen Textes (also minus aller Arten von Vorarbeiten) in der selbstbezüglichen Bewegung, die für poetische Texte charakteristisch ist, Sinn und Bedeutung eines individuellen Textes konstituiert (…)”. 5 Von hier aus ist es nur noch ein Schritt zu dem Wunsche, von einer Einsicht in die Genese verschont zu bleiben. „ Man kann sogar behaupten, daß sich die Leistung von Interpretation gerade dort am besten darstellt, wo sie erst gar nicht in Verlegenheit gerät, zur Krücke ‘textgenetischer’ Argumentationen greifen zu können ”. 6Wieder wird man an einen frühen Spruch von Nadal erinnert : „ Il m’est arrivé de répondre à un ami qui se flattait d’avoir trouvé des documents inédits sur Valéry : ‘Tant pis pour vous’ ”. 7Diese Haltung wurde von Marcel Benabou, einem Schriftsteller der Oulipo-Gruppe, ironisch in einem Buchtitel thematisiert : Jette ce livre avantqu’il ne soit trop tard, 8einem Werk, daß eine Entstehungsgeschichte nachzeichnet und zugleich den Leser vor der Gefahr warnt, ihr folgen zu wollen.
Der Wunsch, von Tatsachen verschont zu bleiben, mag in der Forschung überraschen. Und dennoch trifft man wiederholt auf solche Bedenken. Ihren Befürwortern geht es um die Bewahrung des Textes, den es in seiner Konsistenz zu erhalten gilt. Und in der Tat konfrontiert die Unterscheidung zwischen Text und Genese den Editor mit einem zentralen (wenn schon nicht immer einfach zu lösenden) Problem. 9 Anders der Vorbehalt eines Interpreten, der die Genese aus der Literaturwissenschaft verbannt. „La reconstitution de l’avant-texte implique-t-elle la destruction du texte ?” fragt der kanadische Literaturwissenschaftler Melançon, und beklagt “ (…) le caractère d’agression que peut revêtir la critique génétique à l’égard des œuvres ”. 10Es mag verwundern, daß sich das Mißtrauen hier gegen eine kritische Methode richtet, die dem Textbegriff schon durch ihren Status als Textgenetik verpflichtet ist, während zu gleicher Zeit die Thesen des Dekonstruktivismus (und seine Arbeit an der Auflösung des Textes) von solchen Vorwürfen verschont bleiben. Diese unterschiedliche Behandlung läßt sich vielleicht dadurch erklären, daß die Dekonstruktion nach wie vor dem traditionellen Gegenstand der Literaturwissenschaft – dem Buch und dem Lesen - verbunden bleibt. So findet sie ihren Platz in dem überkommenen Rahmen der Interpretationstheorien, an deren Vielfalt und Widersprüchlichkeit sich niemand mehr stößt. Die genetische Analyse hingegen wechselt nicht nur den Gegenstand – vom Buch zum Schreiben - sie bringt auch die Arbeit des Schriftstellers in den Literaturbegriff ein und stützt sich dabei auf empirische Verfahren, was in der Literaturwissenschaft nicht unbedingt zum guten Ton gehört. Die Kombination eines neuen Forschungsgebiets mit einem neuen methodischen Ansatz hat eine kontroverse Debatte ausgelöst, die inzwischen nicht mehr auf dem Feld der Literaturwissenschaft allein ausgetragen wird, sondern auf das der Ideologie übergreift. So heißt es bei Thomas Wirtz : „ ‘Mehr Demokratie wagen’ ist sein des Editors Motto, die Produktionsmittel werden gewissermaßen vergesellschaftet ” 11 und bei Axel Gellhaus (allerdings in einem anderen Sinne) : „ Schon der Terminus Produktionstheorie verrät ja den Geist einer Zeit, die sich alles nur als Produkt, wenn nicht gar als Ware vorstellen kann ”. 12 In Frankreich richtet sich die Polemik gelegentlich ganz allgemein gegen die Einrichtung und Nutzung von Literaturarchiven : „ Cette manie de l’archive est inquiètante en littérature ” schreibt Jean-Yves Tadié und springt behend von einer ideologischen in die politische Polemik: „Aux yeux de l’équipe des fondateurs [de l’ITEM] les brouillons sont devenus des prolétaires opprimés par le patronat du texte défintif ” 13. Mit der Metapher taucht, hinter dem Aufstand der Handschrift gegen den Text, das Gespenst einer Subversion auf, die seit dem Jahre 1968 (dem Gründungsjahr der ersten Equipe de recherches – dies kann doch kein Zufall sein!) bekanntlich den Bestand der Gesellschaft bedroht. Ganz allgemein verweist aber diese überzogene Reaktion auf einen Konflikt innerhalb der französischen Literaturforschung. Am Ausgang des 20. Jahrhunderts ist eine von restaurativen Bestrebungen geprägte Reaktion gegen die “ sciences humaines ” auf den Plan getreten, die die Uhren zurückdrehen möchte. Literaturarchive sollen zu ihrer Bestimmung als historische Quellensammlungen zurückgeführt werden, die Forschung wieder an die Tradition der Literaturgeschichte im 19. Jahrhundert anknüpfen : „ Revenons à Michelet ! ” 14 Der Text soll dabei als ein Gegebenes erlebt und empfunden werden, dem sich der Interpret zu öffnen hat: es ist gewissermaßen ein retour àHeidegger der hier propagiert wird. Damit wird der Literaturwissenschaftler zum Hüter des Textes bestellt, dem nach dem Hölderlin-Wort obliegt „ daß gepfleget werde der veste Buchstab ”. Sollte er seine Pflicht an die Verlockungen der Handschrift verraten, so gebührt ihm das Schicksal des Fischers aus Tausendundeiner Nacht, der den Kopf lassen muß, weil er die Flasche geöffnet in der ein unheimlicher Geist gefangen war.
In Deutschland allerdings hat sich die querelle des anciens et desmodernes nicht in dem gleichen Maße zugespitzt. Das mag daran liegen, daß die Kontroverse um Text und Genese hier nicht im Mittelpunkt der Diskussion steht. Der vorherrschende Trend, der von den nationalen Philologien weg und zu der allgemeinen Kultur- und Kommunikationswissenschaft hinführt, schenkt der Edition- und Handschriftenwissenschaft kaum noch Beachtung. Allerdings werden auch hier textgenetische Editionsprojekte in ihrem Umfang und ihren Verfahren in Frage gestellt. Mitunter klingt dann die Diskussion an die Außeinandersetzung in Frankreich an, so z. B. wenn Thomas Wirtz einen Unterschied postuliert zwischen „ widerständigen Klassikern ” - rebellischen Geistern offenbar, zu denen er Büchner, Kleist oder Kafka zählt und „ zu deren Auftritt Faksimiles gehören ” - und, auf der anderen Seite, reinen Klassikern wie Goethe und Schiller, die desgleichen „ nicht brauchen ”. 15 Der Zusammenhang zwischen Handschrift und Rebellion, so seltsam er anmuten mag, spukt offenbar in einigen Köpfen weiter.
Was hat nun die critique génétique diesem Sperrfeuer entgegengesetzt ? Bislang nicht allzuviel : ein paar Scharmützel in Zeitschriften, einen Kommentar zur “ Critique de la génétique ”. 16 Verfangen im Dickicht der Manuskripte, in die Geheimisse der Computernetze vertieft, haben die généticiens den Lärm an der Grenze meist nur von weitem wahrgenommen. Doch bleibt es auch ihnen auf die Dauer nicht erspart, die eigene Position zu bestimmen. Anzufangen wäre mit einer Klärung der Begriffe, die in diesem Streit für einige Verwirrung sorgen. Schon die Frage danach, was ein Text ist, wird von Land zu Land unterschiedlich beantwortet. In Deutschland, wie in den angelsächsischen Ländern, bleibt der Begriff lexikologisch vornehmlich als „ die an höchster Stelle stehende sprachliche Einheit ” definiert,17 was ihn zum prädestinierten Gegenstand einer Textlinguistik macht, die der Erforschung satzübergreifender Regularitäten gilt Bußmann, Isenberg. Die Anwendung solcher Kriterien auf literarische Texte ist nicht unproblematisch, da unser Verständnis von sprachlicher Kohärenz sich bekanntlich wandelt : von Finnegans Wake bis zu ZettelsTraum bietet moderne Prosa dem Leser Texte an, die frühere Zeiten als inkohärent und unleserlich empfunden hätten. Ähnlich bestellt ist es um den Begriff der Schriftlichkeit. Auch er bleibt der Linguistik verpflichtet; Schrift wird als kommunikatives Medium verstanden Ludwig, Günter, nicht als Prozeß einer Textproduktion. Im Frankreich der sechziger Jahre dagegen, wurde unter dem Einfluß der Semiotikforschung (Barthes, Kristeva), der Textbegriff um eine dynamische Komponente erweitert. Freilich blieb dabei die Abgrenzung zwischen Text und Genese erhalten. Am deutlichsten wurde diese Konfiguration von Kristeva theorisiert, die in der Glanzzeit der Théorie du texte einen Wesensunterschied postulierte zwischen den Kategorien des Geno-textes : einem „engendrement infini syntaxique et/ou sémantique”, und des Pheno-textes : einem „produit fini : un énoncé ayant un sens”. 18 Die Sprache tritt hier nicht mehr als normative, sondern als schöpferische Kraft auf und damit ist der Schritt zu dem Begriff der Textproduktion getan. Unscharf bleibt allerdings die Relation zwischen Prozeß und Produkt. Wie vollzieht sich der Übergang vom Geno- zum Phenotext, vom unablässigen, kollektiven Fluß der Sprache zur singulären und fixierten Form? Durch wen wird er in Gang gesetzt ? Der Anspruch auf eine „ sémiotique poétique ” wird durch den unspezifischen Begriff einer “ sinnfälligen Aussage ” nicht eingelöst.
Die critique génétique ist in gewisser Weise als eine Antwort auf diese Fragen entstanden. In ihr wird die Grenze zwischen Text und Genese im doppelten Wortsinn aufgehoben : als gewandelter und zugleich als überwundener Begriff. In genetischer Sicht wird der Text selbst als eine Phase des Schreibprozesses gesehen, unabhängig von der Frage, ob diese Stufe eine letztgültige ist oder nach der Publikation noch spätere Veränderungen erfährt. Die Textentstehung wiederum wird als ein Vorgang gesehen, der sich wohl in der Sprache vollzieht, doch erst im Schreiben, durch die produzierende Tätigkeit eines singulären Subjekts Gestalt erhält. Darüber hinaus wird das Produkt des Schreibens nicht als eine linguistische, sondern als eine ästhetische Ganzheit gesehen. Seine Kohärenz verdankt es nicht den Regeln der Sprache, sondern der Kunstform, dem Zusammenwirken all seiner Teile: „ ein System dessen Elemente solidarisch sind ” sagt Gide - und Gracq spricht von der „ atomaren Bindekraft des Kunstwerkes ”. Es vollzieht sich damit ein Übergang vom Text- zum Werkbegriff, der sich auf eine frühere Tradition der Literaturwissenschaft besinnt, sie aber zugleich auch wandelt. Die Stationen dieser Verwandlung lassen sich im allgemeinen Sprachgbrauch ausmachen. Im Jahre 1966 wird die Bedeutung von „ texte = œuvre littéraire ” noch als ein „ néologisme ” registriert. 19 Zwanzig Jahre später wird der Terminus ohne Einschränkung aufgeführt und auch gleich durch ein Beispiel belegt.20Zugleich findet auch der Begriff der Genetik seine ersten lexikologischen Belege : „ Génétique - Etude du processus temporel par lequel est construite une œuvre d’art ” (1979) ;21 „ Manuscriptologie - étude scientifique des manuscrits de création, en relation avec la critique génétique ” (1993). 22Damit ist das Feld zumindest vorläufig abgesteckt, in dem die Relation von Text und Genese untersucht werden kann.
Von der Grenze zwischen Text und Genese wurde gesagt, sie sei aufgehoben; mit dieser Feststellung möchte ich mich nun etwas eingehender beschäftigen. Was sie nicht besagt ist, daß beide Begriffe ihre Eigenständigkeit verloren hätten. Die critique génétique hat sich, im Gegenteil, um eine schärfere Bestimmung der strukturellen wie kulturellen Eigenart von Text und Genese bemüht. Und gleich vorweg : es versteht sich von selbst, daß sich ein Werk nicht in gerader Linie aus dem Arbeitsprozeß entwickelt. Man mißtraue der herkömmlichen Vorstellung, ein Schriftsteller setze sich eines schönen Tages an sein Buch und führe es, im Auf und Ab der Inspiration, dem geplanten Ende zu. In Wahrheit ist ein Schriftsteller, ob am Schreibtisch oder auf Wegen, stets mehr oder weniger bei der Arbeit. Die außerordentliche Vielfalt der Notizhefte, Arbeitsbücher, Taschenkalender, die unzähligen Merkzettel, Projektskizzen, Entwürfe in den literarischen Nachlässen legen davon auf eindrucksvolle Weise Zeugnis ab. Und im Schreibprozeß selbst taucht der Umriß eines Werkkonzeptes oft erst ganz allmählich auf, in einer zunächst noch ungesonderten Vielfalt von Einfällen und Ansätzen. Dies läßt sich in ganz verschiedenen Perioden der Literaturgeschichte beobachten. So habe ich an anderer Stelle Arbeitshandschriften von Petrarca vorgestellt: ein Durcheinander von Strophenentwürfen, die sich erst in der Folge zu verschiedenen Gedichten gruppieren. 23 Für die Gegenwart hat Gunter Martens erst kürzlich von den Handschriften Celans unter dem bezeichnenden Titel „ Jenseits der Werkgrenzen ” berichtet. 24 In Frankreich liefert das Werk Valérys ein klassisches Beispiel einer solchen „ écriture ininterrompue” . Seine Schriften entstehen im Zug des täglichen Schreibgeschäfts der „ Cahiers “ und so können eine Meditation in poetischer Prosa („ Alphabet “) und ein Gedicht (La Jeune Parque) ein und derselben Schreibbewegung entspringen - oder aber zwei Werkentwürfe sich über Jahre hinaus im Schmelztiegel von Motiven und Bildern vermengen (besonders deutlich an dem Beispiel von La Jeune Parque und Album des vers anciens zu sehen). Doch Werk und Genese unterscheiden sich auch durch andere Eigenarten, wie z.B. die ihrer Zeitlichkeit. Die in sich geschlossene Kunstform, ja die Existenz eines Kunstwerkes überhaupt verlangt das simultane Zusammenwirken aller seiner Elemente. Der Entstehungsprozeß dagegen besteht aus einer Abfolge von Schreibmomenten, in denen das Werk jeweils neu Gestalt annimmt. Darüber hinaus aber, unterscheiden sich Werk und Genese vor allem in ihrer kulturellen Stellung und Funktion. Das Werk entledigt sich seiner Genese nicht durch Transsubstantiation sondern durch Publikation. Seine Vergesellschaftung erlangt es auf der Wanderung durch das Verlagssystem und durch die Verwandlung der Handschrift in ein Buch. Aus dermachine à écrire wird eine machine à lire, aus dem plastischen Bild der Handschrift, die normierte Unterlage der Druckform, aus der einsamen Konfrontation des Schriftstellers mit dem „weißen Blatt“, eine Auseinandersetzung mit kommerziellen und sozialen Eingriffen. Die semiotischen und funktionellen Veränderungen des Werkes, die dieser Vorgang nach sich zieht, stehen im Schnittpunkt von genetischer Forschung und Buchgeschichte, die sich heute auch auf die Probleme elektronischer Schriftproduktion- und Verbreitung erstrecken. Ein weites Feld.25 Hier aber interessiert mich an erster Stelle der Wandel im gesellschaftlichen Status, den die literarische Schrift durch die Publikation erfährt. Blieb sie während der Entstehung in der Handschrift unsichtbar, so wird sie nun zu einem Gegenstand der Öffentlichkeit, zum Bestandteil einer kollektiven Kulturgeschichte. Ein so entscheidender Einschnitt hat mitunter zu dem Schluß geführt, daß dadurch auch Kompetenzbereiche abgesteckt werden: die genetische Kritik wäre somit zuständig für das Schreiben und die Literaturwissenschaft für das Lesen. Doch ist der gedruckte Text durchaus auch für die genetische Analyse von Bedeutung. Zum einen geht das Buch durch die Veröffentlichung in einen historischen Kanon ein. Die Auswahl, die im Laufe der Zeit von der Gesellschaft getroffen wird, bezeichnet die Werke deren Erfindungs- und Ausdruckskraft sie für die Interpretation tauglich macht, und diese Auswahl bildet die Voraussetzung für jedwede Form der Kritik, ob textgenetischer oder textkritischer Art. Zum anderen versteht die genetischen Kritik den Text als den Fluchtpunkt der Kräftelinien, die seinen Entstehungsprozeß getragen und geleitet haben. Das Werk erlaubt die Rückschau, es gibt den Blick frei auf die verschlungenen Wege der Genese, deren Gesetzmäßigkeiten sich, von diesem Endpunkt aus gesehen, klarer abzeichnen.
Doch auch das Werk erscheint uns durch seine Genese in einem anderen Licht. Denn der Text lebt nicht nur durch das, was er bewahrt, sondern auch durch all das, was im Laufe seines Entstehens verworfen wurde. Und die Entscheidungen, denen es seine Gestalt verdankt, die es zu dem gemacht haben, was es ist, sind nach wie vor in ihm wirksam. Der prägnante Satz von Reuß „ Etwas steht (wirklich) an seiner Stelle und alles andere (Mögliche) steht da nicht ”26 besitzt die Überzeugungskraft des Offensichtlichen und die Schwäche einer Aporie, die jedweden Zugang zur weiterführenden Interpretation versperrt. Was sagt das hier nicht Stehende über das was hier steht ? Welche Kräfte, welche Sinngebung wirken an dieser Stelle fort? Die Interpreten, sagt Aragon, stellt der Text vor Fragen, die der Autor im voraus beantwortet hat - durch seine Streichungen, Überschreibungen und Korrekturen. Weiter: was hat eine Intertextualität uns Neues zu sagen, die nicht mehr eine Relation zwischen unterschiedlichen Werken, sondern zwischen sukzessiven Fassungen einer Werkentstehung zum Gegenstand hat ? Kurzum, inwiefern kann die critique génétique das Gebiet der Textanalyse erweitern und der Kritik zu einem neuen Umgang mit der Literatur verhelfen ? Es gibt heute mehr und mehr Grund zur Feststellung, daß die Literaturkritik nicht bleiben kann, was sie ist: ihre methodologische Aufsplitterung, die wachsende Unsicherheit, was ihren Zweck und Nutzen betrifft, ihre schwindende gesellschaftliche Relevanz. Die Schlußfolgerungen, die man in letzter Zeit begonnen hat aus dieser Situation zu ziehen, scheinen mir allerdings in ihrem Pessimismus mitunter über das Ziel hinauszuschießen. So z. B. die Diagnose, die Baisch und Lüdeke für die Textgenese erstellen: „Die detailgetreue Deskription und Representation des textgenetischen Befundes zeitigt aber nur selten interpretatorische Ergebnisse, die auch von einer nicht vorrangig textkritisch orientierten Literaturwissenschaft aufgenommen würden“.27oder das Fazit, das Hurlebusch für die Editionswissenschaft zieht : „Ob die editionsphilologische Erneurungswirkung über einzelne hinausgehen wird und das neugermanistische Literaturstudium bereichern kann, ist mehr als fraglich“. 28 Es mag zu Bedauern sein, daß die allgemeine Literaturwissenschaft nicht immer und überall genügend Gebrauch von dem Angebot der genetischen Forschung und Edition macht. Das Interesse, das ihnen in den letzten Jahren zuteil wurde, läßt sich indessen nicht übersehen. In Frankreich ist das Studium der Werkgenese zu einem Pflichtfach im Unterricht auf dem Gymnasium geworden;29 Dissertations- und Habilitationsarbeiten räumen ihr immer mehr Platz ein. Und das gemeinsame Interesse an dem Prozeß einer Werkentstehung hat in den letzten Jahren Editoren und Literaturwissenschaftler einander deutlich näher gebracht. Gerade die Pionierarbeit deutscher Editoren hat auch im Ausland wachsenden Einfluß gewonnen. Die Leistung, die Hans Walter Gabler mit einem internationalen Team erbracht hat, darf hier als exemplarisch gelten, hat sie doch den Weg zu einem wirksamen Einsatz elektronischer Datenverarbeitung unter sinnvoller Berücksichtigung der Quellenlage gewiesen. Ein vollständiges Bild der Entwicklung im internationalen Rahmen zu zeichnen würde die Grenzen dieses Beitrags überschreiten, doch darf diese Dimension bei der Berurteilung der gegenwärtigen Situation unserer Disziplinen nicht übersehen werden. So fällt die Bilanz für die genetische Forschung letztlich so dürftig nicht aus.
Damit soll gewiß nicht gesagt sein, daß Literatur- und Editionswissenschaft nun unbesorgt die Hände in den Schoß der Genetik legen können. Doch darf man erhoffen, daß eine textgenetische Forschung auch weiterhin für neue Impulse in der Beschäftigung mit Literatur sorgen wird. Wieweit diese Hoffnung sich erfüllt, wird uns die Zukunft lehren. Hingegen ist die Standortbestimmung der critique génétique, durchaus ein Anliegen der Gegenwart. In dem bereits zitierten Band Die Genese literarischer Texte, greifen zwei der Autoren eine frühere Anregung von Beda Alleman auf : die „ Entwicklung eines neuen Wissenschaftszweiges ”, der die Lücke zwischen Edition und Interpretation schließen soll. Aus der Feststellung, „ daß die Literaturwissenschaft im Allgemeinen von den Apparatbänden solcher [genetischer] Ausgaben bisher nur selten Gebrauch macht ” folgerte Alleman : „ Was in dieser Lage Not täte, ist die Entwicklung einer eigenen Spezialdisziplin, der ich den Namen Textgentik geben möchte ”. 30 In den Jahren, die seit dieser Aufforderung verstrichen sind, hat sich die textgenetische Perspektive in der Tat als äußerst fruchtbar in der (deutschen ) Editorik erwiesen und zugleich der (französischen) Literaturwissenschaft ein neues Feld eröffnet. Dagegen ist es ihr bislang kaum gelungen, den von Alleman zu recht erwünschten Brückenschlag zwischen den beiden Disziplinen zu vollbringen.
Die Diskussion um die Ortsbestimmung der genetischen Kritik innerhalb von Literatur und Kunst wurde nicht nur in Deutschland kontrovers geführt, sie hat auch in Frankreich so manche Debatte ausgelöst. Allerdings unter anderen Vorzeichen : es ging hier im Wesentlichen um die Frage, inwieweit sie als eigenständiger Forschungszweig zu betrachten sei. Für eine solche Auffassung spricht die Tatsache, daß der genetische Ansatz auch außerhalb der Literatur seine Anwendung findet. So publiziert Genesis denn auch Untersuchungen auf den Gebieten der Musik, der Architektur, der bildenden Künste oder der naturwissenschaftlichen Forschung. Trotz allem scheinen mir diese unterschiedlichen Arbeiten die Vorstellung einer allgemeinen Wissenschaft der intellectual creation kaum zu untermauern. Der Dialog der Künste hat sicherlich dazu beigetragen, die Eigenarten ihrer verschiedenen Produktionsweisen genauer zu erkennen, im Vergleichbaren wie im Zuunterscheidenden. Doch es bleibt dabei, daß die Untersuchung einer handschriftlichen Partitur in erster Linie ein Beitrag zur Musikwissenschaft ist und die einer Skizze, ein Beitrag zur Kunstgeschichte. Was nichts anderes heißt, als daß es in der textgenetischen Analyse der Gegenstand ist wodurch sich die Disziplin letztlich definiert. Dementsprechend neige ich auch dazu, die critique génétique als eine Wissenschaft von der Wortkunst anzusehen. Aus dieser Sicht ist sie eine Provokation der Literaturwissenschaft, so wie seinerzeit ihr Pendant, die Rezeptionsästhetik, eine Provokation der Literaturgeschichte war. Diese Herausforderung bringen die Freischärler aus dem Dickicht der Handschriften mit nach Hause, wenn sie heute, vorbei an allen Zoll- und Kontrollposten, von den fernen Streifzügen in ihre litteraturwissenschaftliche Heimat zurückkehren.
1 Überarbeitete Fassung eines Vortrags auf dem Symposium Text and Border: The Borders of the Text, Innsbruck, Januar 2003.
2 Roland Reuß: Schicksal der Handschrift, Schicksal der Druckschrift. Notizen zur Textgenese. In: Texte, Heft 5, 1999, S. 14.
3 Wolfram Groddeck: Überlegungen zu einigen Aporien der textgenetischen Editionsmethode am Modell von Georg Trakls Gedicht ‘Untergang’ . In: Texte, Heft 5, 1999, S. 27.
4 „ Das Werk entspringt unberührt und vollendet [...] Sein Ursprung geht nicht auf die Wechselfälle seiner Entstehung zurück, sondern ist in dem einzigen Augenblick eingeschlossen, in dem es seine Existenz als Werk aufnimmt”, Gustave Nadal: Etude critique de documents inédits. In : Paul Valéry: La Jeune Parque, Paris, 19922 , S. 150.
5 Reuss 1999 (Anm. 1) S. 13.
6 Ibid., S. 4. In einer Mitteilung an das Symposium hat Roland Reuss sich gegen diesen Verweis auf seine Publikationen verwahrt. Die Beanstandung betraf nicht den Wortlaut der Zitate, die in dieser Fassung unverändert und an gleicher Stelle stehen.
7 “ Einem Bekannten, der sich dazu beglückwünschte, unbekannte Dokumente über Valéry entdeckt zu haben, antwortete ich: ‘Umso schlimmer für Sie’ ”, Gustave Nadal 19922 (Anm.3) S. 147.
8 ( Wirf dieses Buch weg, bevor es zu spät ist), Marcel Benabou: Jette ce livre avant qu’il ne soit trop tard. Paris, 1992.
9 Diese Problematik stand in jüngster Zeit auf der Tagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition zur Diskussion: Was ist Textkritik ? Zur Geschichte und Relevanz eines Zentralbegriffes der Editionswissenschaft, Innsbruck, Februar 2004. Vgl. auch Rüdiger Nutt-Kofhot: Vom Schwinden der neugermanistischen Textkritik. In: editio 18/2004, S. 38-54 und Günter Martens, Das Werk als Grenze. Ein Versuch zur terminologischen Bestimmung eines editorischen Begriffs, id., S. 173-186.
10 „ Setzt die Rekonstruktion des ‘Avant-textes’ die Zerstörung des Textes voraus ? ”, und : “ (…) die agressive Haltung der critique génétique dem Werk gegenüber ”, Robert Melançon: Le statut de l’oeuvre: sur une limite de la génétique. In: études françaises, 28-1, 1992, S. 49.
11 Zitiert nach Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta: Schlechte Zeiten - gute Zeiten für Editionen ? Zur Bedeutung der Marburger Büchner-Ausgabe für die gegenwärtige Editionsphilologie . In: editio, 15/2001, S . 155.
12 Axel Gellhaus: Textgenese zwischen Poetologie und Editionstechnik . In: Axel Gellhaus u. A.: Die Geneseliterarischer Texte , Würzburg, 1994, S. 311-312.
13 „ Diese Manie des Archivs in der Literatur ist besorgniserregend ” und : „ Für die Gründer [des ITEM] sind die Handschriften zu Proletariern geworden, die von den Kapitalisten des endgültigen Textes unterdrückt werden ”. In: le débat, n° 102, 1998, S. 180 u. 176.
14 Tadié 1998 (Anm.11) S. 180.
15 Wirtz 2001 (Anm.9) S. 155.
16 Pierre-Marc de Biasi, Le Monde, 14. 2. 1997 versus Laurent Jenny, Le Monde, 20.12.1996; Louis Hay, ledébat, n° 105, Mai 1999 versus Jean-Pierre Tadié, le débat, n° 102, Dezember 1998.Vgl. auch Louis Hay:Critique de la génétique. In: La littérature des écrivains. Paris, 2002. S.89-110.
17 Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 8 Bänden, 19952.
18 “ ein unendlicher, syntaktischer und/oder semantischer Entstehungsprozess ” ; “ ein abgeschlossenes Konstrukt: eine sinngebende Aussage ”, Julia Kristeva: Un coup de dés… In: essais de sémiotique poétique. Paris, 1972, S. 216.
19 Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française, Paris 1966, Bd. VI, S. 534 § 2-4. In Wirklichkeit gibt es frühere Belege für diesen Gebrauch von “ Text ”, die aber wohl nicht mehr im Sprachgebrauch aktualisiert waren.
20 Paul Robert, Le petit Robert, Paris, 1986, S. 1954, § V. Bezeichnenderweise ist diese Wandlung weder in der deutschen, (Duden), noch in der englischen (The Oxford Dictionnary) Lexikologie belegt.
21 Lexique sémiotique, Paris, 1979, S. 89.
22 Dictionnaire historique de la langue française, Paris, S. 1186.
23 Les Manuscrits des écrivains, Paris, 1993, S. 17.
24 Gunter Martens: Jenseits der Werkgrenzen. In: Text, Heft 5, 1999, S. 173-189.
25 Für einen Überblick, siehe Genesis, n° 10, 1996.
26 Reuß (Anm.1) S.5-6.
27 In: Textgenese und Interpretation, Stuttgart, 2000, S. 142.
28 Klaus Hurlebusch: Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens, Tübingen, 2001, S. 74.
29 In den Schulbüchern für Literaturunterricht in der Oberstufe sind diesen Fragen die ersten Kapitel gewidmet.
30 Aus einem unveröffentlichen Referat auf dem Celan-Kolloquium im Jahre 1987. Zitiert nach : Rolf Bücher: Beda Alleman über Textgenese. (Anm.10) S. 330.